Seit April 2024 ist Cannabis in Deutschland teilweise legalisiert.
Doch die öffentliche Debatte bleibt an einem Punkt besonders aufgeladen: dem Jugendschutz.
Kritiker:innen befürchten Normalisierung, Suchtverharmlosung oder einen Anstieg riskanter Konsummuster, vor allem bei Jugendlichen. Wie tragfähig ist dieses Argument?
Und was sagen die verfügbaren Daten, wenn man die emotionale Aufladung beiseitelässt. Hinter der Sorge um Jugendliche steckt oft mehr Rhetorik als Verantwortung. Dieser Artikel beleuchtet, warum das so ist und was fehlt, damit Jugendschutz bei einer Legalisierung von Cannabis mehr ist als ein Schlagwort.
Wenn Sorge um Jugendschutz zum Reflex wird – Cannabis-Legalisierung als Projektionsfläche
Seit dem 1. April 2024 ist der Besitz von Cannabis für Erwachsene in Deutschland legal.
Doch wer die Debatte verfolgt, bekommt schnell den Eindruck: Die eigentliche Gefahr gehe nicht vom Schwarzmarkt aus, sondern vom Gesetz selbst. Besonders laut ist dabei die Sorge um „unsere Jugend“. Als gäbe es kein stärkeres Argument gegen eine Reform als der Verweis auf junge Menschen, die geschützt werden müssten, nicht nur vor Konsum, sondern vor politischen Entscheidungen.
Schon vor der Reform war das ein bewährtes Muster. Im Sommer 2023 warnte der Präsident der Bundesärztekammer:
„Durch die Freigabe wird eine Droge verharmlost, die nachgewiesenermaßen abhängig macht und zu schweren Entwicklungsschäden führen kann, gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.“(1)
– Dr. Klaus Reinhardt, 2023
Damals war das Gesetz noch nicht beschlossen. Die Botschaft: Wer legalisiert, gefährdet die Jugend. Zwei Jahre später klingt es fast gleich, nur ist der Ton verschärft.
Jetzt geht es nicht mehr um Prävention, sondern um politische Schuldzuweisung. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach erklärte im März 2025:
„Mit Blick auf den Gesundheits- und Jugendschutz sowie die Suchtprävention halte ich [die Legalisierung] für unverantwortlich.“(2)
– Judith Gerlach, CSU
Diese Zitate sind zwei Beispiele aus der Jugendschutzdebatte rund um Cannabis. Solche Aussagen folgen einem vertrauten Muster. Was als Fürsorge erscheint, ist oft ein politisch eingespielter Argumentationsrahmen, ein reflexartiges Narrativ, das unabhängig von neuen Daten oder Gesetzesinhalten wiederholt wird. Nicht, weil sich die Faktenlage verändert hätte, sondern weil sich eine Erzählung etabliert hat, die moralisch überzeugt, ohne empirisch geprüft zu werden. Dabei wäre ehrliche Sorge kein Gegenargument zur Reform, sondern ein Grund, sie sinnvoll umzusetzen.
Der Trick mit der moralischen Selbstverständlichkeit
Das wirksamste Argument ist oft das, das sich gar nicht mehr wie ein Argument anfühlt, sondern wie ein moralisches Axiom. Niemand will Jugendlichen schaden. Niemand, der bei Verstand ist, will Sucht verharmlosen. Und genau deshalb entfaltet dieses Narrativ seine Wirkung: Es stellt keine Frage, sondern es unterstellt Schuld. Das Gesetz erscheint als zwielichtiger Dealer, der Jugendliche zu Drogenkonsum verleitet.
Wer sich für eine kontrollierte Legalisierung von Cannabis ausspricht, muss sich häufig rechtfertigen, nicht für politische Entscheidungen, sondern für eine gefühlte Nachlässigkeit. Denn sobald die Debatte auf den Schutz von Jugendlichen gelenkt wird, reicht schon ein Zweifel, um Misstrauen zu säen.
Dahinter steht ein bekanntes rhetorisches Prinzip: das sogenannte Dammbruch-Argument (auch „Slippery Slope“). (3) Es funktioniert nach dem Muster: Wenn wir A zulassen, folgt zwangsläufig B – und am Ende Z. Dabei wird der Zwischenweg ausgeblendet und so getan, als gäbe es nur die Wahl zwischen vollständiger Ablehnung und totalem Kontrollverlust.
Im Fall der Legalisierung lautet die implizite Logik: Wenn Erwachsene legal konsumieren dürfen, wird „Kiffen“ zur Normalität. Wenn es normal wird, werden Jugendliche neugierig. Und dann – so die Warnung – ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie konsumieren. Ich bin noch mit dem Narrativ aufgewachsen, dass die verbotenen Dinge bei Jugendlichen Neugierde wecken. Hier stehen zwei gefühlte Wahrheiten gegeneinander, also kann nur eines helfen: wissenschaftliche Fakten.
Was wie ein naheliegender Zusammenhang wirkt, ist bislang nicht belegt.
Die Forschungslage zu Konsumeffekten nach Legalisierung ist differenziert, doch die politische Debatte bevorzugt einfache Deutungen. Umso wichtiger ist es, die aktuelle Rechtslage nüchtern einzuordnen, jenseits von Erzählmustern und Befürchtungen.
Was heute wirklich verboten ist – und was nicht
Auf den ersten Blick wirkt es, als sei Cannabis mit dem neuen Gesetz einfach freigegeben worden. Doch die Regulierung fällt deutlich differenzierter aus, insbesondere mit Blick auf Jugendliche.
Der Konsum bleibt unter 18 Jahren verboten. Öffentlicher Konsum ist in Sichtweite von Schulen, Kitas und Spielplätzen untersagt, ebenso wie tagsüber in Fußgängerzonen.
Für Anbauvereinigungen – sogenannte Cannabis Social Clubs – gelten Mindestabstände zu Jugendeinrichtungen, begrenzte Mitgliederzahlen, dokumentierte Abgabemengen und verpflichtende Alterskontrollen. Werbung bleibt untersagt.(4)
All das ist neu. Und all das ist rechtlich bindend.
Zwar war Cannabis auch vorher für Minderjährige verboten, zunächst über das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), später über das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG). Doch diese Regelungen zielten vor allem auf Besitz, Handel und Anbau, nicht auf Prävention oder Konsumkontrolle.
Es gab keine Altersverifikation, keine kontrollierte Abgabe, keine Aufklärungspflicht.
Der Schwarzmarkt funktionierte, auch für Minderjährige. Wer heute also von einem Rückschritt beim Jugendschutz spricht, übersieht: Erstmals existieren gesetzliche Strukturen, die diesen Schutz überhaupt ermöglichen, nicht als reine Strafandrohung, sondern als Rahmen für regulierte Kontrolle.
Das heißt nicht, dass Jugendliche nun effektiv vom Konsum abgehalten würden.
Wie bei anderen Substanzen auch hängt die Wirksamkeit von Jugendschutzmaßnahmen von deren Umsetzung ab und von der Frage, ob die nötigen gesellschaftlichen Voraussetzungen überhaupt geschaffen werden. Denn: Aufklärung braucht Zeit, Lehrpläne und pädagogisch geschultes Personal. Prävention braucht Finanzierung, auch jenseits einzelner Modellprojekte.
Eltern brauchen Zugang zu verständlicher, aktueller Gesundheitsbildung. Und Schulen brauchen Unterstützung, um diese Aufgaben überhaupt zu stemmen. Klar ist: Jugendschutz und Cannabis-Legalisierung schließen sich nicht aus. Sie bedingen sich, wenn Kontrolle funktionieren soll.
Wo das fehlt, bleibt der Schwarzmarkt erreichbar, auch und besonders für Minderjährige.
Warum echter Jugendschutz Regulierung braucht – nicht Symbolpolitik
Wer langfristig glaubwürdige Drogenpolitik betreiben will, kommt an einer evidenzbasierten Debatte über Jugendschutz im Kontext der Cannabis-Legalisierung nicht vorbei. Wer den Jugendschutz wirklich stärken will, müsste fragen: Was wirkt? Was hilft konkret? Und wo versagt das bisherige System?

Doch genau diese Fragen gehen in der Debatte oft unter. Statt sich mit der neuen Rechtslage auseinanderzusetzen, dominiert weiterhin das alte Argument: Die Legalisierung sende ein falsches Signal. Sie normalisiere eine gefährliche Substanz. Sie untergrabe Schutz durch Verharmlosung. Dabei liegt hier ein Denkfehler: Regulierung bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern Steuerung. Und wer sie pauschal ablehnt, verhindert genau jene Strukturen, die Kontrolle überhaupt erst möglich machen: Altersverifikation, Dokumentation, Qualitätsprüfung, pädagogische Begleitung. Dass diese Instrumente jahrzehntelang fehlten, ist kein Beweis gegen die Reform, sondern gegen den Status quo davor.
Doch genau diese Fragen gehen in der Debatte oft unter. Statt sich mit der neuen Rechtslage auseinanderzusetzen, dominiert weiterhin das alte Argument: Die Legalisierung sende ein falsches Signal. Sie normalisiere eine gefährliche Substanz. Sie untergrabe Schutz durch Verharmlosung. Dabei liegt hier ein Denkfehler: Regulierung bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern Steuerung. Und wer sie pauschal ablehnt, verhindert genau jene Strukturen, die Kontrolle überhaupt erst möglich machen: Altersverifikation, Dokumentation, Qualitätsprüfung, pädagogische Begleitung. Dass diese Instrumente jahrzehntelang fehlten, ist kein Beweis gegen die Reform, sondern gegen den Status quo davor.
Auffällig ist auch, wie selektiv die Sorge vor „Normalisierung“ eingesetzt wird.
Beim Thema Alkohol, dessen Konsum unter Jugendlichen zwar rückläufig ist, aber in Teilen weiterhin problematisch, bleibt die Empörung oft aus. So tranken laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2023) etwa 10 % der Jugendlichen regelmäßig Alkohol. Und jede:r Sechste im Alter zwischen 12 und 17 gab an, im letzten Monat mindestens einmal exzessiv getrunken zu haben.(5)
Trotzdem gilt Alkohol als „gesellschaftlich eingebettet“, während Cannabis symbolisch überhöht wird: Als Projektionsfläche für Verantwortung, ohne dass strukturell Verantwortung übernommen wird. Mittlerweile kennen wir die Fehler und die Problematik rund um Alkohol. Die Teilegalisierung von Cannabis ist die Chance aus diesen Fehlern zu lernen und es nun besser zu machen.
Studien zu Cannabis-Legalisierung und Jugendschutz: Was wirklich wirkt
Ein Blick ins Ausland zeigt: Nicht die Legalisierung selbst entscheidet über Risiken – sondern ihre konkrete Ausgestaltung.
Kanada
Eine Scoping Review aus dem Jahr 2024 analysierte 47 Studien zum Cannabiskonsum Jugendlicher nach der Legalisierung. (6) Das zentrale Ergebnis: Die Gesamtverbreitung blieb weitgehend stabil. In manchen Erhebungen war der tägliche Konsum sogar rückläufig. Ein dauerhafter Anstieg der Konsummengen ließ sich nicht nachweisen.
Anders sieht es bei den Konsumformen aus:
Eine Querschnittsstudie unter Schüler:innen der Klassen 7 bis 11 (7) dokumentierte einen deutlichen Zuwachs bei Edibles und Vape-Produkten, teils um über 40 %.
Auch Mischkonsum mit Alkohol nahm zu, während die wahrgenommene Gefährlichkeit sank.
Diese Entwicklungen zeigen: Eine Legalisierung ohne flankierende Maßnahmen zu Produkttypen, Kennzeichnung und Aufklärung kann neue Risiken erzeugen, selbst wenn die Gesamtzahlen stabil bleiben. Prävention funktioniert nicht automatisch mit dem Gesetz, sondern mit der Frage, wie es umgesetzt wird.
Deutschland
Seit April 2024 gilt ein zweistufiges Modell: kontrollierter Eigenanbau und gemeinschaftlicher Anbau über sogenannte Cannabis Social Clubs (Clubs seit Juli 2024).Belastbare Evaluationen stehen noch aus. Doch erstmals existiert ein rechtlicher Rahmen, der es erlaubt, Konsumstrukturen zu regulieren, statt sie dem Schwarzmarkt zu überlassen.
Wie wirksam dieser Rahmen ist, wird sich daran entscheiden, wie konsequent er umgesetzt, überprüft und weiterentwickelt wird. (8)
Land | Jugendkonsum nach Legalisierung | Bewertung |
Kanada | stabil bis leicht rückläufig – Ausnahme: Edibles | Kein Anstieg insgesamt, aber Risikoverschiebung |
Deutschland | neue Kontrollstrukturen im Aufbau | rechtlicher Rahmen vorhanden – Wirkung offen |
Die Studienlage zeigt: Eine Legalisierung bedeutet nicht automatisch mehr Konsum – aber sie verlangt eine präzise, flankierende Regulierung. Realistischer Jugendschutz gelingt dort, wo nicht nur Gesetze beschlossen, sondern auch Schutzstandards implementiert und kommuniziert werden.
Fazit: Sorge ist richtig – aber sie braucht Struktur
Es ist richtig, sich um Jugendliche zu sorgen. Niemand will, dass junge Menschen durch riskanten Konsum geschädigt werden, ganz gleich, um welche Substanz es geht.
Aber Sorge allein reicht nicht. Sie muss sich in konkreten Maßnahmen zeigen: in klaren Regeln, funktionierender Kontrolle, guter Aufklärung und verlässlichen Strukturen.
Sonst bleibt sie Symbolpolitik.
Die Legalisierung von Cannabis ändert vieles, auch beim Thema Jugendschutz.
Sie schafft neue Möglichkeiten, Risiken zu begrenzen, ohne sie zu tabuisieren.
Ob das gelingt, hängt nicht nur vom Gesetz ab, sondern davon, wie ernst wir es mit Schutz wirklich meinen.
Wenn also beim nächsten Gespräch wieder die Frage kommt:
Aber was ist mit den Jugendlichen?“
- dann ist das kein Widerspruch. Sondern vielleicht der Anfang eines besseren Gesprächs.
Weiterführende Quellen
- https://www.bundesaerztekammer.de/presse/aktuelles/detail/reinhardt-cannabis-legalisierung-ist-kein-jugendschutz-sondern-hochgradig-verantwortungslos
- https://www.welt.de/vermischtes/article255779118/Trotz-Legalisierung-Bayern-genehmigt-keinen-einzigen-Cannabis-Club.html
- https://de.wikipedia.org/wiki/Dammbruchargument
- https://www.gesetze-im-internet.de/kcang/
- https://www.praeventionstag.de/nano.cms/news/details/9480
- Toula Kourgiantakis et al. (2024): Understanding youth and young adult cannabis use in Canada post-legalization: a scoping review on a public health issue.
- Mital et al. (2025) Legalizing Youth-Friendly Cannabis Edibles and Extracts and Adolescent Cannabis Use
- https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/cannabis/faq-cannabisgesetz.html
Das ist schon ein erstaunlich hochwertiger Artikel, so etwas bekommt man selten in solch ergreifenden Art und Qualität zu lesen!
Habe den Artikel in Sozi-Medien geteilt und er scheint auch dort gut anzukommen. Bin gespannt, ob man mit ihrer Arbeit politisch etwas erreichen kann.
LG und vielen Dank für ihre Mühen!